Kommentar: Vorsicht mit dem Finger Pointing

Kommentar: Vorsicht mit dem Finger Pointing

21. Februar 2022 6 Von Carsten Schulte

Nach dem Böllerwurf von Essen liegt die Versuchung nahe, den Essener Anhang oder gleich den ganzen Klub von der Hafenstraße zu diskreditieren. Gründe dafür würden gerade Preußenfans viele finden. Aber sauber wäre das nicht. Ein Kommentar.

Die ersten Reaktionen, sicher aus der Wut oder dem Entsetzen heraus, waren eindeutig. Eine Schande für Essen, für RWE, für den Anhang, der ja sowieso ein Haufen von Problemkindern sei. Die Zahnlosen. Das ganze Repertoire an Beleidigungen, das der Fußball und die Rivalität beider Klubs eben so hergibt.

Am Tag danach, etwas abgekühlt, kann der Blick differenzierter ausfallen. Unstrittig muss sein, dass eine solche Körperverletzung weder in Essen noch beim Fußball noch eigentlich irgendwo etwas zu suchen haben sollte. Menschen haben allerdings leider die unangenehme Eigenschaft, Arschlöcher auszubilden, denen gesunder Menschenverstand abhanden kommt.

Es wird nicht, nirgends, jemals möglich sein, Vorfälle wie diesen in Essen auszuschließen. Weder dort noch in Münster oder sonstwo. Es geht einfach nicht, dann müsste man Menschen als Publikum ausschließen. Und nebenbei, weil die Versuchung so schön nahe liegt, solche Szenen gerne dem „Pöbel“, den Asis in der Kurve zuzuschieben: Wer schon einmal Klubverantwortliche, Sponsoren oder sogenannte VIP beim Fußball erlebt hat, ahnt, dass es hier um ein Problem geht, das nur knapp unterhalb einer zivilisierten Fassade liegt. Alkohol, Emotionen, Gruppendynamik: Fußball bringt leidenschaftliche Momente zustande, aber leider auch mal die animalische Seite der Menschen.

Dessen ungeachtet sollten auch Preußen-Fans so viel Reflexion zeigen, nicht gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die vergangenen Jahre – so lang muss man nicht zurückschauen – haben auch üble Szenen mit Preußen-Beteiligung zutage gefördert. In Duisburg verletzten Preußenfans mit Pyrotechnik andere Fans des Klubs. In Osnabrück verübte ein geistesgestörter Anhänger des SCP einen Anschlag im Stadion des VfL, der 35 Menschen verletzte. Und Teile der Szene solidarisierten sich damals – mit dem Täter!

So furchtbar lang ist es noch nicht her, dass im Preußenstadion Blöcke gesperrt wurden, Auswärtsfans verboten wurden, weil der SCP-Anhang teilweise über die Stränge schlug. Böller flogen auch in Münster schon aus der Ostkurve. Gab es nicht „gerade“ erst diese Geschichte mit Feuerwerkskörpern, die unter das Tribünendach zischten und einem folgenden Materialverbot durch den Klub? Das war 2019. Alles Geschichten, die noch heute von „preußen-fernen“ Münsteranern gerne und oft herangezogen werden, um die gesamte Anhängerschaft schlecht zu reden. Es müsste also in Münster sehr vertraut klingen, was Essen gerade hört. Einzelne machen für viele alles kaputt.

Das alles soll nicht Essener Probleme mit besonders „betreuungsintensiven“ Anhängern relativieren. Vielleicht hat RWE einiges aufzuräumen, was bisher unter den Teppich gekehrt wurde. Und die „Einzeltäter-Theorie“ dürfte wohl nur insofern stimmen, als dass am Ende eben nur eine Person den Böller geworfen hat – jedoch im Schutz oder mit Billigung anderer. Noch ist ja offenbar kein klarer Hinweis eingegangen, der den oder die Täter/in überführt hätte.

Also: Abwarten. Aber im Kopf behalten, dass so ein Mist grundsätzlich auch in Münster möglich gewesen sein könnte.